Neuzeit
Arbeite, Frau!
(Der Industrialisierungsschock)
Der allgemeine Prozess der Industrialisierung war von großen gesellschaftlichen Umwälzungen begleitet, die ein neues Zeitalter einleiteten. Die Erfindung der Maschine führte nicht nur zur Entstehung eines auf der untersten sozialen Stufe angesiedelten Arbeiterproletariats, sie griff auch tief in zwischenmenschliche Beziehungen ein und zerstörte Hausgemeinschaften und Familien. Leidtragende dieser Entwicklung waren in erster Linie die mehrfach ausgebeuteten Frauen. Ihnen wurden die schwersten, gesundheitsschädigendsten und niedrigsten Arbeiten zugewiesen, sie erhielten durchschnittlich um ein Drittel, manchmal sogar um die Hälfte oder noch weniger bezahlt als die Männer und mussten zusätzlich in der äußerst karg bemessenen Freizeit auch noch den Haushalt bewältigen.
Zu einem besonderen Problem im Leben der Arbeiterin wurden die Kinder. Sie blieben häufig unversorgt, bestenfalls wurden sie von älteren Frauen, Pflegeeltern oder in Kinderbewahranstalten beaufsichtigt. Oft übernahmen auch ältere Kinder die Obhut über die Kleinen. Säuglinge wurden an ihre Bettchen angebunden, vielfach auch mit Alkohol ruhig gestellt.
Dass die Doppelt- und Dreifachbelastung der Frau aber keinesfalls honoriert, sondern ganz im Gegenteil von ihr auch noch ein zusätzliches Zurückstehen bei der Nahrungsmittelverteilung erwartet wurde, zeigt folgender Kommentar in einer öffentlichen Publikation der Bauhilfsarbeitergewerkschaft des Jahres 1908: „In der Arbeiterfamilie ist es einmal so: der Mann, der ja arbeiten muss, bekommt von der vorhandenen Nahrung den größeren Anteil, auch die Kinder erhalten so viel wie möglich. Übrig bleibt in den meisten Fällen die Mutter; sie begnügt sich mit Schmecken, wenn zu wenig da ist, und lebt von Brot, Kaffee und Kartoffeln. Die Frau des Arbeiters bringt sich der Familie täglich zum Opfer. Wenn alle nicht mehr rufen, dann ist sie zufrieden, wenn sie auch hungert.“
Neben der Arbeit in Fabriken und als Dienstmädchen waren Frauen noch vornehmlich als Verkäuferinnen und Kellnerinnen tätig – Berufe, die sich ebenfalls durch lange und anstrengende Arbeitszeiten, geringen Lohn und Schikanen ihrer Vorgesetzten und Kunden auszeichneten. Für die einigermaßen gebildete, bürgerliche Frau hingegen gab es vor Erfindung der Schreibmaschine und des Telefons lediglich zwei Möglichkeiten, sich eigenes Geld zu verdienen: als Gesellschafterin oder Privatlehrerin, also Gouvernante.
Das „erotische Jahrhundert“
Kein Zeitalter war so prüde, so verlogen und gleichzeitig so erotisch wie das 19. Jahrhundert. Die von Kopf bis Fuß verhüllte, tabuisierte und daher geheimnisvolle Frau erregte die erotischen Phantasien des Mannes aufs Äußerste. Weibliche Erotik war aber praktisch nicht existent. Eine Frau, die ihre eigenen diesbezüglichen Wünsche und Sehnsüchte formuliert oder künstlerisch dargestellt hätte, wäre als höchst schamlos verurteilt worden. Die ehrbare Frau pflegte eher einen vornehmen, diskret geäußerten Widerwillen gegen die sexuellen Belästigungen ihres Mannes.
Dass die Prostitution blühte wie kaum je zuvor, zeigt die Kehrseite jener bürgerlichen Wohlanständigkeit.
Der Körper der Frau war tabu. So sollten Ärzte nur im äußersten Notfall eine gynäkologische Untersuchung vornehmen, die im verdunkelten Zimmer und wenn möglich unter einer Decke stattzufinden hatte. Meist jedoch musste die kranke Frau, die den Arzt nur in Gegenwart einer Begleitperson konsultieren durfte, lediglich auf einer Gliederpuppe demonstrieren, wo es ihr wehtat.
Gigantische Wälzer wurden über Lust und Frust des Mannes geschrieben, eventuell auch noch über jene Halbweltfrauen, jene „dames scandaleuse“, die es wagten, sich über bürgerliche Schicklichkeit hinwegzusetzen und auf einer schmalen Gratwanderung so etwas wie weibliche Erotik und weibliche Sexualität zu leben. Auch in dieser Zeit gab es Kurtisanen, Diseusen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen, die meist aus den unteren Schichten stammten und sich mit Glück, Schönheit, Begabung und dem Spekulieren auf männliche Begehrlichkeit hinaufgearbeitet hatten. Sie waren die Ausnahmen. Das Elend der Prostitution, auch der Kinderprostitution war die Regel. In Paris gab es 1860 nach Angaben der Polizei 30.000 Prostituierte, nicht offizielle Quellen hingegen sprachen von 120.000. Am schlimmsten war die Kinderprostitution, die, aus Not und Elend geboren, in den Slums der großen Städte überhand zu nehmen begann. In London ebenso wie in New York gab es Kinderbordelle, die besonders in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts florierten.
„Krankheit Frau“
Die Frau als Mängelwesen, als Unfall im Plan des Schöpfers, wie sie bereits von Aristoteles, Hippokrates und Galen beschrieben und in diesem Jahrhundert neu belebt worden war, wurde mit Krankheit assoziiert. Tatsächlich war die Pathologisierung der Frau vor allem ein Charakteristikum des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die aus einer langen Tradition sich ableitende Mindereinstufung der Frau gegenüber dem Mann wird jetzt sozusagen verwissenschaftlicht, die „Biologie des Weibes“ erklärt problemlos seine Unterlegenheit. Denn diese Biologie ist negativ besetzt, die Frau ist nicht nur minderwertig, sie ist auch krank, angefangen von der Menstruation über die Schwangerschaft bis zur weiblichen Sexualität. Auch das Nervensystem, das Gehirn, die gesamte weibliche Konstitution wird als schwach, siech, wenig widerstandsfähig bezeichnet.
1925 schrieb K. Asbjorn Wieth-Knudsen („Frauenfrage und Feminismus“): „Die vergleichende Anatomie und Anthropologie hat festgestellt, dass fast alle Züge im Körperbau des Weibes vom Scheitel bis zur Sohle darauf hinweisen, dass seine physische Entwicklung zwischen der des Kindes und des Mannes liegt.“
Arthur Schopenhauer bezeichnet die Frau infolge völliger Vernunftferne als einen „Verderb der modernen Gesellschaft“, lediglich dazu ausersehen, den nach Harmonie und Weitsicht strebenden Mann aus der Bahn zu werfen und zu ruinieren. Frauen sind nach Schopenhauer verschlagen, vergnügungssüchtig, verschwenderisch, vernunftschwach, ausbeuterisch, äffisch und kokett, daneben noch diebisch und meineidisch. Lediglich zu „Pflegerinnen und Erzieherin unserer ersten Kindheit“ seien sie geeignet.
Noch übertroffen wurde Schopenhauers Frauenverachtung durch Weiningers pathologischen Frauenhass, wie er in seinem 1903 erschienenen Werk „Geschlecht und Charakter“ zum Ausdruck kommt. Weininger sieht in der Frau ein Wesen ohne eigene Seele und ohne eigenen Geist, sie ist lediglich ein Stück knetbare Masse, dem der Mann den eigenen Odem einhaucht: „Das Weib ist nichts, und darum, nur darum kann es alles werden … Aus einer Frau kann man machen, was man will … Das Weib mag alles scheinen und alles verleugnen, aber es ist nie irgendetwas in Wahrheit. Die Frauen haben nicht diese oder jene Eigenschaften, sondern ihre Eigenheit beruht darauf, dass sie gar keine Eigenschaften haben; das ist die ganze Kompliziertheit und das ganze Rätsel des Weibes …“
In den Chor allgemeiner Frauenverächter lässt sich auch mühelos Friedrich Nietzsche einreihen. Denn obwohl dieser dem weiblichen Geschlecht noch so etwas wie eine kräftige, unverbildete Natur zuerkennt, „eine echte raubtierhafte listige Geschmeidigkeit, eine Tigerkralle unter dem Handschuh, eine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit …“, will er derartige Eigenschaften trotzdem gezähmt und in den Dienst weiblicher Gebärfunktion gestellt wissen.
Kein Wunder, dass vor einem solchen Hintergrund eine Schrift mit dem Titel „Beweis, dass die Frauenzimmer eigentlich gar keine Menschen sind“ entstehen konnte, verfasst von einem Herrn Walfisch und gedruckt im Jahre 1862. Ebenso das Buch des Paul Möbius über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, das geradezu sensationell erfolgreich war.
Die diffamierte, unbedeutende und machtlose Frau wurde mehr und mehr mit Krankheit gleichgesetzt: Leiden, Empfindlichkeit, Anfälligkeit – das waren Symptome, die ihr zugebilligt wurden. Es entstand die „femme fragile“ als Gegenstück zur „femme fatale“, die schwache, zarte, pflegebedürftige Frau, die ständig von Ohnmachtsanfällen heimgesucht wurde und im Zeitraum zwischen 1890 und 1906 ihren „Höhepunkt“ hatte.
In der Realität begannen Frauen eigenartige, durch die Medizin nicht erklärbare Symptome zu entwickeln und Praxen, Kliniken und Sanatorien quollen über von leidenden Patientinnen, deren verinnerlichter Protest augenscheinlich war; von der damaligen Medizin aber nicht als solcher erkannt wurde. Trotzdem begann dieser Zustand auch die Zeitgenossen zu beschäftigen, die „Krankheit Frau“ wurde als Phänomen begriffen, wobei vor allem die Hysterikerin das medizinische Interesse erregte und zu weit reichenden Spekulationen Anlass gab. Hysterische Frauen dienten als wissenschaftliche Schauobjekte in den Hörsälen der Universitäten, an denen ausschließlich Männer ihre medizinischen Studien betrieben.
„Die Frau ist frei geboren … „
(frühfeministische Ansätze)
In der hysterischen Frau manifestierte sich eine Form weiblichen Protests, in der nicht weniger diffamierten, trotzdem jedoch wesentlich wirksameren Frauenbewegung die andere. Verlacht, verhöhnt und angefeindet bahnten sich ab etwa 1848 diese Frauen der ersten Stunde ihren Weg. Und es ist heute gar nicht nachvollziehbar, wie viel Mut, Durchsetzungskraft und Ausdauer dabei nötig waren, um den massiven gesellschaftlichen Widerstand zu überwinden.
Plötzlich begannen Frauen, die sich bislang ausschließlich um Haushalt und Familie gekümmert hatten, Vereine zu gründen, Vorträge zu halten, Artikel zu schreiben und Zeitungen zu redigieren. Sie richteten Kurse ein, gründeten Schulen und Klubs, organisierten Demonstrationen und Streiks und nahmen an internationalen Konferenzen teil, womit sie das gängige Klischee der fügsamen, verfügbaren und für jede öffentliche Arbeit unfähige Hausfrau und Familienmutter gründlich erschütterten.
Es ist Frauen der Gegenwart auch kaum noch bewusst, was sie diesen Pionierinnen an nun selbstverständlichen Rechten zu verdanken haben, angefangen von Wahlrecht über das Recht auf Bildung, auf Prozessfähigkeit, auf Eigentum und einen eigenen Beruf, bis hin zur Gleichberechtigung innerhalb der Familie, die allerdings besonders schwierig durchzusetzen war und in letzter Konsequenz erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verwirklicht wurde.
In den weiteren Kapiteln geht Hilde Schmölzer eingehend auf die verschiedenen Frauenbewegungen und deren wichtigste Persönlichkeiten ein.
Tipp: Da das Buch, das wirklich jede Frau lesen sollte, im Handel nur mehr schwer erhältlich ist, sollte man sich in öffentlichen Büchereien umsehen. Ich habe ein Exemplar in der Städtischen Bücherei gefunden (ISBN 3-900977-11-9).