Das Herz einer Wölfin

von Heinz Körner

Es war einmal ein Mädchen, das ging eines Tages in den Wald und traf dort einen Wolf. Der Wolf sah groß, stark und wild aus, er gefiel dem Mädchen über alle Maßen. Seine Art, sich zu bewegen, und seine wilde, animalische Ausstrahlung faszinierten das Mädchen ungemein, und deshalb lief es auch nicht weg. „Sag, mein Kind“, brummte der Wolf, „warum fürchtest du dich nicht vor mir?“ „Du bist das schönste Tier, das ich jemals gesehen habe“, sagte das Mädchen, „Warum sollte ich Angst vor dir haben?“

Das gefiel dem Wolf, und deshalb begleitete er das Mädchen durch den Wald. Sie redeten lange miteinander. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, dachte der Wolf: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen mögen könnte.“ Und das Mädchen dachte auf dem Heimweg: „Dieser Wolf ist wunderbar, ich könnte mich glatt in ihn verlieben.“

Sie trafen sich noch oft, führten interessante Gespräche und erlebten gemeinsam wunderschöne und verzauberte Stunden. Der Wolf erklärte dem Mädchen die Welt, wie er sie mit seinen Augen sah, und es lauschte ihm begeistert. Er zeigte dem Kind traumhafte Plätze in den Wäldern, die noch nie zuvor ein anderer Mensch gesehen hatte, und weihte es ein in die Wildheit und die Schönheit der Natur. Das Mädchen erzählte von den Menschen und versuchte, ihm die Ordnung und die Klugheit der Welt näher zu bringen, in welcher es selbst aufgewachsen war – ohne sich allerdings dafür begeistern zu können.

Irgendwann stellten sie fest, dass sie die Welt des anderen zwar niemals wirklich verstehen würden, sich aber gegenseitig sehr mochten. Sie verliebten sich und beschlossen, zusammen alle Farben dieser Welt kennen zu lernen. Das Mädchen war stolz auf seinen Freund. Es bewunderte seine Stärke, seinen Mut und seine Klugheit. Und manchmal fühlte es sich von seiner ursprünglichen Wildheit geradezu überwältigt und genoss seine ungestüme Art und seine tierische Ausstrahlung in vollen Zügen.

Doch das Mädchen wurde zur Frau. Und dieser jungen Frau begann irgendwann das Wilde und Animalische an ihm doch ein wenig unheimlich zu werden. Manchmal sagte sie, er könne sich ruhig etwas gesitteter verhalten und sich ein wenig feiner und anständiger benehmen. Die Menschenfrauen seien modern und emanzipiert und hätten es nicht nötig, sich so rau und ungestüm behandeln zu lassen. Dabei war er weder unanständig noch allzu rau, sondern einfach nur ein Wolf.

Als sie wieder einmal über dieses Thema gesprochen hatten, dachte der Wolf, dass er die Menschen wohl niemals verstehen würde. Wie sollte er begreifen können, dass eine junge Frau sich ausgerechnet wegen der Eigenschaften in ihn verliebt hatte, die ihr jetzt mit einem Male auf die Nerven gingen? Er mochte sie so, wie sie nun mal war. Wieso sollte er sie verändern wollen? Entweder habe ich jemanden gern, so wie er ist, dachte der Wolf, oder ich mag ihn nicht so, wie er ist, aber dann muss ich ja auch nicht mit ihm zusammensein. Trotzdem liebte der Wolf die junge Frau noch immer und bemühte sich deshalb, ihr zuliebe nicht mehr ganz so wölfisch zu erscheinen, auch wenn es ihm oft sehr schwer fiel und sein Innerstes zu zerreißen drohte.

Die junge Frau freute sich und lobte ihn. Nun konnte sie auch bei ihren Freundinnen prahlen, und viele fanden ihn ganz toll. Manche sagten, er sei ihnen noch immer zu tierisch, obwohl sie ihn trotzdem umschwärmten und glänzende Augen bekamen, wenn sie ihn sahen – sehr zum Leidwesen ihrer gepflegten und gesitteten Menschenmänner. Wenn die junge Frau ihn daraufhin beobachtete, dachte sie manchmal auch: „Man merkt tatsächlich, dass er letzten Endes doch ein Wolf ist.“ Und sie bat ihn, sich in dieser Hinsicht noch mehr Mühe zu geben.

Da er sie nach wie vor liebte, zwang er sich weiterhin in eine Rolle, die ihm eigentlich gar nicht behagte. Doch ihre Freude über seine positive Entwicklung, ihr Stolz auf seine neugewonnene Weichheit und sein frisches Auftreten spornten ihn an und schienen es ihm leicht zu machen. Nur nachts, besonders bei Vollmond, da stahl er sich immer öfter davon, um tief in den Wäldern einsam das alte Wolfslied zu heulen.

Die junge Frau war jetzt stolz auf ihn und wurde auch von ihren Freundinnen bewundert, weil es ihr gelungen war, einen so schönen Wolf zu zähmen. Im Laufe der Jahre gewöhnte er sich mehr und mehr an das Leben, das die junge Frau mit ihm führte. Und es gab durchaus Situationen, in welchen er zu fühlen glaubte, dass es gut so war. Die Nächte, in denen er sich unglücklich fühlte und es ihn in den Wald zog, wurden immer seltener. Es blieb nur eine unbestimmte Traurigkeit in ihm zurück, so eine Ahnung, dass ihm etwas sehr Wichtiges verlorengegangen war, von dem er nicht einmal mehr wusste, was es eigentlich gewesen war.

Seine Freundin wurde eine selbstbewusste und starke Frau. Manchmal blickte er sie bewundernd und staunend an und glaubte zu spüren, dass sie inzwischen – obwohl sie eine Menschenfrau war – das Herz einer Wölfin hatte.

Die Frau schien glücklich zu sein. Alles lief gut, es gab nur selten Probleme, und die meisten ihrer Freundinnen fanden, dass der Wolf und sie ein schönes Paar waren. Nur manchmal, da spürte sie ein sonderbares Ziehen im Bauch und eine eigenartige Traurigkeit. Sie sah dann ihren geliebten Wolf an und merkte in diesen seltenen Augenblicken, dass er vieles von dem verloren hatte, was sie früher so sehr an ihm bewundert hatte. Je gezähmter und braver er sich gab, um so weniger war von seiner wilden Ursprünglichkeit und seiner früher so beeindruckenden Stärke geblieben. Und es gab Situationen, da fehlte ihr seine animalische, wilde und ungestüme Kraft. Dann sehnte sie sich traurig zurück nach einer Zeit, die wohl nicht mehr zurückzuholen war.

Eines Nachts, es war tiefer Winter, da machten die beiden bei Vollmond einen Spaziergang in dem Wald, in welchem sie sich vor langer Zeit kennen gelernt hatten. Sie stapften durch den unberührten Schnee und sprachen von früher und davon, wie schön damals alles gewesen sei und… Da stürmte ein graues Ungetüm aus der Dunkelheit auf sie zu, und bevor die junge Frau sich versah, stellte ihr Wolf sich schützend vor sie und war auf einmal in einen gnadenlosen Kampf verwickelt. Doch der Kampf war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Eine seltsame Stille lag über dem Wald und es war auf einmal sehr leer in der Frau. „Sieh mal einer an“, brummte der riesige Wolf, der eben noch mit ihrem Freund gekämpft hatte, „eine Menschenfrau. Sag mal, wie kommt es, dass ein Wolf mit dir durch den Wald geht? Ich hätte ihn fast getötet…“ „Ist er nicht tot?“, fragte die Frau. „Ach was. Es geht ihm wohl ziemlich schlecht, aber das wird schon wieder werden.“ „Warum hast du das getan?“, fragte sie tonlos. „Warum hast du mich und meinen Freund angegriffen?“ „Deinen Freund? Was redest du da für einen Unsinn? Ein Wolf ist niemals der Freund eines Menschen!“

Sie beugte sich über ihren verletzten Wolf und strich ihm über den Kopf. „Von wegen! Ich habe viel von ihm gelernt. Durch ihn bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Warum hast du ihn beinahe getötet?“ „Weil es schon ziemlich lang her sei muss, dass dein Freund ein richtiger Wolf war“, brummte das riesige Tier. „Nicht einmal bei einem alten Wolf hätte ich so leichtes Spiel gehabt. Gute Frau, der riecht ja kaum noch nach Wolf. Ich habe ihn für einen alten Haushund gehalten.“ Trotz ihrer Tränen blitzte Zorn in ihren Augen, und sie funkelte ihn böse an: „Er ist ein Wolf, du Idiot, und was für einer!“

Der riesige junge Wolf beschnupperte noch einmal seinen Artgenossen. Er knurrte leise und blickte die junge Frau lange an. „Seltsam“, sagte er dann. „Und jetzt hau ab und kümmere dich um deinen verletzten Freund. Er braucht deine Hilfe.“ Die Frau ließ nicht locker: „Warum hast du uns überhaupt angefallen?“ „Ich habe Hunger, verdammt noch mal! Doch so groß ist mein Hunger niemals, dass ich deshalb einen von meiner Art töte. Aber eine Menschenfrau würde ich nicht unbedingt verachten. Du hast Glück, dass irgendetwas an dir wie eine Wölfin wirkt. Also: Verschwinde endlich, bevor ich es mir anders überlege!“

„Was soll jetzt nur aus mir werden?“, jammerte die Frau. Sie schien keine Angst zu haben und bewegte sich nicht von der Stelle. „Jetzt mach mal halblang!“, knurrte der Wolf. „Vielleicht hast du von deinem Freund wirklich vieles gelernt. Aber sieh dir doch an, was aus ihm geworden ist. Mag sein, dass du inzwischen das Herz einer Wölfin hast – in ihm findest du nur noch den kläglichen Rest eines Wolfes! Halt also endlich das Maul, jammere hier nicht rum und hau ab, sonst werd ich ernstlich sauer und garantiere für nichts mehr!“

Da wandte sich die junge Frau ab, hob ihren Gefährten hoch und trug ihn mit Tränen in den Augen nach Hause. Dort legte sie ihn auf ihr Bett und versorgte ihn liebevoll. Dabei dachte sie: Ist wirklich aus diesem wunderschönen, starken und wilden Wolf, aus diesem herrlich stolzen und freien Lebewesen ein Tier geworden, über das andere Wölfe nur noch lachen können und das auf sie wirkt wie ein alter Haushund? Nein, das hatte sie niemals gewollt! Sie liebte ihn doch so sehr. Auf einmal hatte sie begriffen: Lieben – das kann niemals heißen, dem anderen seine Einzigartigkeit zu nehmen! Sie würde ihn gesund pflegen und in Zukunft alles anders machen. Doch in dieser Nacht heulte sie ihren Schmerz und ihre Wut über sich selbst dem vollen Mond entgegen, und es klang wie das Heulen einer Wölfin, die um ihren Gefährten weint.“