Abgängig

„Vollständiger Name und Geburtsdatum, bitte!“

„Karoline Weiß, 13.2.1946“

„Letzte bekannte Anschrift“

„Wien 18, Herbeckstraße 24“

„Größe, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe“

„174, 60 kg, braun, braun“

„Besondere Kennzeichen“

„Keine“

„Wann haben Sie die abgängige Person zum letzten Mal gesehen?“

Ja, wann eigentlich? Es scheint schon recht lange her zu sein. Ihr Dasein war so selbstverständlich, daß ich ihr Verschwinden gar nicht wahrnahm. Was ist nur geschehen?

Der Polizeibeamte schaut mich auffordernd über seinen Brillenrand an und zieht die Stirn in Falten. Ich schlucke, rutsche auf der Sesselkante hin und her und bemühe mich, Ordnung in mein verwirrtes Hirn zu bringen. Erinnerungsfetzen tauchen auf, verschwinden wieder, lassen sich nicht greifen. Plötzlich ist da ein Duft von Sommer im Zimmer, ein buntes Sommerkleid flattert durch mein Gedächtnis begleitet von fröhlichem Lachen. – Und dann – weg. Zurück bleibt nur das nüchterne Zimmer auf dem Polizeikommissariat und der Beamte, der nun schon deutlich ungeduldig wird und mit dicken groben Männerfingern auf die Schreibtischunterlage klopft.

Umständlich beginne ich in meiner Handtasche zu kramen und finde schließlich Zigaretten und Streichhölzer. Ich werde ärgerlich, weil meine Finger zittern, und es mir nicht gelingt, ein Hölzchen zu entzünden. Na endlich, es brennt und wieder taucht ein Bild auf. Da ist Musik, Gläserklingen und wieder dieses Lachen. Meine Finger mit dem brennenden Zündhölzchen zittern noch immer, und plötzlich fällt mir das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzchen ein, und ich merke entsetzt, wie Tränen hochschießen. Unsicher zünde ich meine Zigarette an, verbrenne mir die Finger und spüre Feuchtigkeit auf meinen Wangen.

„Nana,“ sagt der Beamtenmann, und fast erwarte ich, daß er mir männlich überlegen die Hand tätschelt. Gottseidank tut er es nicht, sondern fragt: „Können Sie sich nicht mehr erinnern?“

Doch, ich kann mich erinnern, an Gefühle von Wärme, Jugend und Lebensfreude – aber alles ist schon so lange her. „Vor 6 oder 7 Jahren“, sage ich schließlich, und das Beamtenmanngesicht zeigt dümmliches Staunen. Der Uniformrücken strafft sich, und jetzt schauen mich vorwurfsvolle Glotzaugen an. „Und da kommen Sie erst jetzt!“ Brav fraulich reagiere ich und fühle mich schuldig, hilflos, dumm, alt und häßlich.

„Ja“, sagt meine Kleinmädchenstimme.

„Da wird man nach so langer Zeit nicht mehr viel machen können.“

Ich nicke, stehe auf und will nur mehr weg.

„He! Ihre Unterschrift brauche ich noch“, hält mich die Amtsstimme auf und ich schreibe auf die punktierte Linie, auf die der Beamtenfinger zeigt: Karoline Weiß.

Ich trete hinaus ins Freie, mache ein paar unsichere Schritte und sehe plötzlich mein Spiegelbild in einer Auslagenscheibe. „Da kann man nicht viel machen“, hat er gesagt. Man vielleicht nicht, aber Frau schon, und ich beschließe, die abgängige Person selbst zu suchen.

Empfunden und geschrieben von
Katharina Höllebauer