Der kleine Bär

Es war einmal ein kleiner Bär. Er war kleiner als die anderen Bären, obwohl er schon älter war. Doch das störte den kleinen Bären nicht. Er war sich seiner kleinen Größe durchaus bewusst.

Beim regelmäßigen Zusammentreffen der Bärenfamilie des Waldes bewunderte man seine vielen Fähigkeiten. Der kleine Bär war fröhlich und glücklich darüber. So trug seine Freude und sein munteres Wesen viel zur Geselligkeit der ganzen Bärenfamilie bei.

Eines Tages wurde beschlossen, dass einige ausgewählte Bären den zu eng gewordenen Waldabschnitt verlassen sollten, um in einer anderen Gegend eine Bärenfamilie zu gründen. Das Los fiel auch auf den kleinen Bären. Schweren Herzens zog er mit den anderen in die neue Gegend um. In anderen Waldgebieten hatte man Ähnliches beschlossen, und so trafen sich viele fremde Bären im neuen Tal.

Der kleine Bär war von Stund an sehr traurig. Er hatte Heimweh nach seiner vertrauten Umgebung, niemand kannte ihn hier, niemand war mehr da, der ihn bewunderte. Die anderen Bären, die mit ihm kamen, hatten auch kein Ohr mehr für ihn, da sie selbst viel zu beschäftigt waren mit ihren eigenen, neuen Aufgaben und Problemen.

So wurde der kleine Bär immer trauriger und zog sich selbst mehr und mehr zurück. Weil er das tat, konnte keiner der neuen Bärenfamilien den kleinen, fröhlichen Bären richtig kennenlernen. Alle kannten nur den traurigen Bären, der vor lauter Trauer jeden Kontakt mit anderen mied. Man kümmerte sich auch nicht mehr viel um ihn. Er war voller Misstrauen und Argwohn. Der kleine Bär lebte nur noch in der Vergangenheit.

Nach mehreren Jahren wurde der kleine Bär eines Tages sehr krank. Plötzlich wurden alle auf ihn aufmerksam. Ach ja, da war ja noch der kleine Bär. Man umsorgte ihn, pflegte ihn. Jeder kam zu ihm und wollte ihm helfen.Das gefiel dem kleinen Bären sehr; er hatte plötzlich wiedergefunden, was er so sehr vermisst hatte. Er wurde fröhlich, und jeden Tag ging es ihm besser. Doch auch mit jedem Tag kam weniger Besuch, denn es wurde erzählt: „Der kleine Bär ist wieder gesund, er braucht uns jetzt nicht mehr!“

Der kleine Bär verstand die Welt nicht mehr. Jetzt war er doch wieder glücklich, und alles sollte so schnell zu Ende sein? Er wurde wieder ganz traurig. So war er für die anderen wie früher – der kleine traurige Bär.

Der kleine Bär selbst litt sehr darunter. So geschah es, dass er jedes Jahr einige Male vor lauter Kummer krank wurde. Jedes Mal war er trotz der Krankheit glücklich, denn er durfte dann die Sorge und die Liebe der anderen aus der Bärenfamilie spüren, die sonst ihren eigenen Dingen nachgingen und sich nicht um ihn kümmerten.

Nach einigen Jahren, während der langen Wintermonate, als der kleine Bär ganz einsam in seiner Höhle schlief, träumte er von den vergangenen glücklichen Jahren im Tal seiner Jugend und von den Jahren in der Bärenrunde. Er träumte von den abendlichen gemütlichen Feiern, bei denen er die anderen Bären so glücklich machen konnte.

In diesem Traum begegnete ihm ein kleiner Vogel. „Hallo, kleiner Bär, du bist so traurig. Weißt du denn nicht, warum du in diesem Tal so unglücklich bist?“

„Nein, kleiner Vogel, bitte sage es mir“, flehte der kleine Bär.

„Warum warst du damals glücklich, kleiner Bär?“

Der kleine Bär begann zu weinen und schluchzte: „Alle liebten mich, und hier liebt mich niemand.“

„Was hast du denn immer gerne getan, kleiner Bär?“ fragte der Vogel zurück.

„Ich habe gerne getanzt und Späße gemacht, habe gesungen und gespielt.“

„Warum tust du das jetzt nicht mehr?“ fragte der Vogel besorgt.

„Weil niemand mich liebt.“

„Aber kleiner Bär, hast du nur deshalb die anderen mit deinen Späßen und deinem Singen erfreuen wollen, weil sie dich mochten? Warum willst du deine Liebe nur verschenken, wenn du ein Echo bekommst?“

„Anders ist das doch unmöglich“, antwortete der kleine Bär zerknirscht.

„Bist du sicher, oder wolltest du nur selbst geliebt und bewundert werden, kleiner Bär? Überlege mal!“

„Ich weiß es nicht“, schluchzte da der kleine Bär.

Als sein Schluchzen etwas nachgelassen hatte, schaute ihn der Vogel lange an und sagte: „Schenke, und du wirst beschenkt, kleiner Bär; liebe, und du wirst geliebt!“

Plötzlich wachte der kleine Bär ganz erschrocken aus seinem Traum auf. Er machte sich noch lange Gedanken über diesen seltsamen Traum. „Schenke, und du wirst beschenkt, liebe, und du wirst geliebt …“

In der nächsten Zeit, es war inzwischen schon Frühling geworden, sah man den kleinen Bären nachdenklich durch das Tal spazieren …