Der Paradiesvogel

von Roland Kübler aus „Die Farben der Wirklichkeit“

Vor langer, langer Zeit – als noch niemand wusste, dass es einmal so etwas wie Beton geben würde, als es noch keine Maschinen gab, sondern Werkzeuge, als alle noch das sagten, was sie dachten und es noch niemanden störte, wenn ein anderer in der Nase bohrte – da konnten die Vögel noch richtig miteinander sprechen. Nicht nur zwitschern und piepsen wie heute – nein, sie konnten richtig miteinander reden, sich Geschichten erzählen, beratschlagen, Witze machen und einander schildern, was sie alles gesehen und erlebt hatten.

Die Spatzen waren auch schon damals ziemlich geschwätzig. Sie saßen oft stunden-, ja tagelang zusammen, um miteinander zu plauschen und sich Neuigkeiten zu erzählen. Eines Tages kam ein einzelner Spatz. Er landete mitten in einem großen Schwarm schwatzender Spatzen, um zu rasten und Atem zu holen von einer langen Reise. Die Spatzen rückten gerne etwas zusammen, um für den Weitgereisten Platz zu schaffen. Waren sie doch alle gespannt, welche Neuigkeiten er zu berichten wusste.

Der fremde Spatz erzählte von fernen Ländern, atemberaubenden Abenteuern, unglaublichen Begebenheiten und von einem schönen, großen Vogel. Dieser, so schwärmte er, leuchte in wundervollen Farben und könne in seiner stillen Weisheit jedem einen Rat geben. Von allen anderen werde er „Paradiesvogel“ genannt. Die Spatzen beschlossen, sofort loszufliegen, um diesen Vogel zu suchen.

Nach einigen Stunden Flug über fremde Täler und Flüsse, über satte Wiesen und gepflügte Äcker, trafen sie einen Vogel, der ihnen seltsam vorkam. Er hatte schwarzglänzendes Gefieder, blinkende Knopfaugen und schien überhaupt nicht fliegen zu wollen. Er stolzierte auf sie zu und wartete. Die Spatzen verharrten demutsvoll, bis jener Schwarzgefiederte seinen Kopf etwas zur Seite neigte und hoheitsvoll krächzte: „Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“ Die Spatzen zuckten zusammen und trippelten ein paar Schritte zurück. Sie hatten sich zwar gewünscht, dass der große schwarze Vogel das Wort an sie richten würde, als er dann aber zu ihnen sprach, bekamen sie ein wenig Angst. Endlich fand ein neugieriger Spatz genügend Mut, räusperte sich ein wenig, trat vor und piepste schüchtern: „Wir sind unterwegs, um den Paradiesvogel zu suchen. Er soll wunderschön sein und die Antwort auf alle Fragen kennen. Weißt du vielleicht, wo wir ihn finden?“

Der große schwarze Vogel wiegte nachdenklich den Kopf: „Den Paradiesvogel sucht ihr? So, so. Und wie soll der aussehen?“ „Das wissen wir leider nicht genau“, antworteten die Spatzen und starrten den Vogel ehrfurchtsvoll an. „Ja wisst ihr denn nicht“, schnarrte die Krähe bedrohlich – denn um eine solche handelte es sich – „dass ich derjenige bin, der in allen Ländern der Paradiesvogel genannt wird? Euch muss die Dummheit mit den ersten Würmern in den aufgesperrten Schnabel gestopft worden sein, wenn euch das nicht bekannt ist.“ Die Spatzen schwiegen betreten und verschämt. „Nun“, fuhr die Krähe fort, „trotzdem will ich euch erlauben, bei mir zu bleiben, um von mir zu lernen.“ Darüber freuten sich die Spatzen, denn sie hielten es für eine große Ehre, beim Paradiesvogel bleiben zu dürfen. Um möglichst viel zu lernen, bauten sie ihre kleinen Nester nahe an die Behausung der Krähe. Jeden Morgen stolzierte diese durch den Spatzenschwarm und freute sich, wenn die Spatzen demütig die Köpfe neigten, sobald ihre blinkenden Knopfaugen in deren Richtung blickten. Mancher Spatz versuchte sogar seine Federn schwarz einzufärben, um dadurch der Krähe nachzueifern. Aber immer, wenn sich ein schwarzgefärbter Spatz so der Krähe zeigte, krächzte diese laut auf, hackte ihm die Augen aus und erklärte beruhigend dazu: „Siehst du, jetzt habe ich dir die Erleuchtung geschenkt. Alles was du nun siehst, ist die Farbe des Paradiesvogels. Meine Farbe. Von nun an wirst du immer um mich sein als treuer Diener und Schüler. Du wirst meine Befehle befolgen und auf meine Worte hören. Sie werden dir die Offenbarung schenken. Und wenn du meine Lehre wahrhaftig lebst, wird sich dir die Welt in all ihren Farben zeigen.“

Darüber vergaßen die blinden Spatzen ihren Schmerz und warteten nur noch sehnsüchtig darauf, dass die Krähe zu ihnen sprechen würde. Denn dies würde ihnen ja wieder die Augen öffnen. Sie würden Bäume sehen, die Farben von Blumen und Schmetterlingen, das Wachsen und Sinken der Sonne. Aber die Zeit verging. Nichts geschah. Immer noch stolzierte die Krähe jeden Morgen durch den Schwarm der wartenden Spatzen. In ihrem Gefolge die Blinden, die über jede kleine Bodenunebenheit stolperten. Immer noch freute sich die Krähe, dass die Spatzen ehrfürchtig vor ihr die Köpfe senkten.

Die Spatzen begannen sich zu wundern. Vor allem wunderten sie sich über ihre Brüder und Schwestern, die dem großen schwarzen Vogel nachstolperten, ihre blinden Köpfe in die Runde drehten, kein Wort sprachen und nichts mehr sahen. „Das kann nicht der Paradiesvogel sein, den wir suchen“, stellten sie fest und beschlossen weiterzufliegen. Wieder ließen sie Wiesen und dichte Wälder unter sich. Flogen über breite Flüsse, die sich träge ins Meer wälzten und über karge Steppen, die dem Wind als Spielplatz dienten. Als sie müde waren, setzten sie sich an den Hang eines felsigen Berges, um ein wenig auszuruhen. Plötzlich verfinsterte sich die Sonne, die Luft zitterte unter der Gewalt eines riesigen Vogels, der mit rauschenden Flügeln mitten in der Spatzenschar landete.

Viele von ihnen wurden von dem starken Luftsog fortgewirbelt und einige fanden gar den Tod unter den Füßen des gewaltigen Vogels. Stolz aufgerichtet saß dieser über dem Schwarm der kleinen, sich duckenden Spatzen, blähte seine Flügel mächtig im abendlichen Bergwind, äugte nach unten und fragte drohend: „Was sucht ihr hier? Wer seid ihr?“ Die Spatzen zitterten, wie sonst nur unter aufkommenden Gewitterwolken in ihrer Heimat, verbargen die Köpfe unter den Flügeln und atmeten heftig vor Angst. Endlich trat einer hervor, der mutig genug war und flüsterte kaum hörbar: “ Wir … sind nur zufällig hier. Wir suchen den Vogel, der über alles Bescheid weiß. Wir suchen den Paradiesvogel.“ „Schaut mich an“, dröhnte gewaltig die Stimme des Adlers – denn um einen solchen handelte es sich – „wer bin ich?“ Die Spatzen zuckten zusammen vor dieser drohenden Stimme, steckten die Köpfe unters Gefieder und zitterten vor Angst. „Du, du bist es“, fiepte schließlich einer von ihnen, der es vor lauter Angst nicht mehr unter seinem Flügel aushielt, „du musst es sein.“

Auch alle anderen Spatzen blinzelten jetzt erleichtert unter ihren Federn hervor und riefen begeistert im Chor: „Du musst es sein! Wir haben ihn gefunden!“ Da streckte der Adler seine gewaltigen Schwingen gegen den Wind und drohte: „Seid jetzt ruhig und stört meine Kinder nicht, die hier im Horst schlafen.“ Die Spatzen suchten sich Heu, Stroh und Lehm, um ihre Nester möglichst dicht um den Adlerhorst zu bauen und versuchten, von dem großen Vogel zu lernen. Sie wollten mit ihm in endlose Höhen steigen, um alles zu sehen und übten sich darin, in wildem Sturzflug hinabzuschießen auf die Erde. Aber nur wenigen gelang es. Jene aber packte der Adler und warf sie seinen Jungen zum Fraß vor. Das blieb den Spatzen nicht verborgen, und sie beschlossen weiterzuziehen. Dass dies der gesuchte Paradiesvogel sein sollte, konnten sie sich inzwischen nicht mehr vorstellen.

Wieder zogen sie lange über Meere, die sich wild schäumend unter ihnen aufbäumten. Über sandzerflossene Wüsten, die auf das Ende der Ewigkeit warteten. Über schneebedeckte Berge und weite, fruchtbare Ebenen. Sie flogen so lange, bis sie eines Tages nicht mehr konnten. In einem dichten wuchernden Wald ließen sie sich nieder, um auszuruhen und zu überlegen, wie es denn nun weitergehen solle. „Wir müssen umkehren“, riefen einige, „es hat keinen Sinn weiterzufliegen!“ „Wir finden ihn schon noch“, sagten andere, „wir brauchen eben Zeit.“

„Zeit finden! Weiterfliegen! Sinn! Eben, eben!“ quasselte plötzlich eine fremde Stimme neben ihnen und dann weiter: „Finden keinen. Schon, schon. Müssen keinen. Brauchen schon“. Ein buntgefiederter Vogel flatterte in den verdutzt blickenden Spatzenschwarm, legte den Kopf zur Seite und redete pausenlos weiter: „Wir ihn. Hat es müssen. Es hat Sinn.“

„Wer bist denn du?“, fragten die Spatzen, „was redest du da?“ „Redest du da. Da, da bist du Sinn!“ „Was hat er von Sinn gesagt?“ rief ein Spatz aufgeregt. „Ich glaube, dieser bunte Vogel will uns etwas Wichtiges sagen.“ „Bündnis! Vogel Wichtiges“, erzählte der Papagei – denn um einen solchen handelte es sich. „Nähe ist. Paradiesvogel. Vogelparadies. Vielleicht ganz, hier. Hier Paradiesvogel!“

Der Redefluss des Papageis war nicht zu bremsen. „Was meint er“, schrie ein Spatz, der ein wenig weiter weg saß, „der redet so furchtbar schnell und außerdem nuschelt er. Hat er nicht gesagt, dass der Paradiesvogel hier sei?“ „Doch, doch“, riefen andere Spatzen aufgeregt dazwischen, „wir haben es ganz deutlich gehört.“

„Deutlich, Paradiesvogel. Schnell gesagt. Wichtiges Vogel bunt! Paradiesvogel haben deutlich!“ Begeistert über die neuen Worte schwatzte der Papagei munter weiter.

„Vielleicht ist er auch selbst der Paradiesvogel. Der soll doch bunte Federn haben.“ „Paradiesvogel selbst. Selbst bunt Paradiesvogel.“ Die Spatzen jubelten. „Wir wollten schon aufgeben – und da ist er plötzlich, ohne dass wir ihn suchen mussten.“ „Aufgeben schon da. Da plötzlich ist Paradiesvogel.“ Der Papagei zerkaute jedes neue Wort genüsslich zwischen seinem gebogenen Schnabel. Vor allen der Klang des Wortes „Paradiesvogel“ gefiel ihm. Immer wieder brabbelte er vor sich hin: „Paradiesvogel. Paradiesvogel. Paradiesvogel …“

Die Spatzen waren fest davon überzeugt, am Ziel zu sein. Einige merkten jedoch schon bald, dass der Papagei sie überhaupt nichts lehren konnte, da er ja nur Worte nachsprach, die er kurz zuvor gehört hatte. Seltsamerweise konnten die Spatzen, welche dies bemerkt hatten, nur wenige Freunde von ihrer Meinung überzeugen. „Dies ist ja seine Weisheit“, riefen viele, „er drängt uns nichts auf, will uns nichts lehren, uns nicht überzeugen, weil er weiß, wie klug wir sind.“ Nach heftigen Auseinandersetzungen im Spatzenschwarm flog nur ein kleiner Teil weiter, um den Paradiesvogel zu suchen. Die Mehrheit blieb zurück beim Papagei und freute sich, wenn sein ständig fließender Wortschwall ihre eigenen Worte wiederholte.

Die restlichen Spatzen flogen wieder sehr lange. Stürme zerzausten ihnen die Federn, Gewitter schüttelten die kleinen Körper und einmal fiel sogar Schnee und sie froren erbärmlich. Müde und erschöpft versammelten sie sich auf der Erde in der Nähe eines großen Schwarmes frecher Meisen, um ein wenig Atem zu holen. Die Meisen kümmerten sich überhaupt nicht um die Spatzen. Hatten sie doch genug zu schwatzen und zu erzählen, Krumen aufzupicken und mit dem Wind zu spielen. Die Spatzen aber – ratlos, wie es denn nun weitergehen solle – näherten sich den Meisen und fragten: „Sagt mal, wisst ihr vielleicht, wo wir den Vogel finden können, der Paradiesvogel genannt wird?“ Die Meisen hoben nur kurz den Kopf, denn sie waren gerade damit beschäftigt, einen sehr langen Regenwurm aus der Erde zu ziehen. „Klar doch! Wissen wir! Aber helft uns zuerst einmal, diesen langen Wurm aus der Erde zu ziehen, damit wir heute Abend ein kleines Festessen machen können.“

Obwohl die Spatzen ziemlich ungeduldig waren, packten sie mit an und halfen, den sich windenden Wurm aus dem Boden zu ziehen. Am Abend, nachdem sie zusammen den Wurm verspeist hatten und sich wohlig die Bauchfedern glattgestrichen hatten, wiederholte einer der Spatzen die Frage: „Könnt ihr uns wirklich sagen, wo wir den Paradiesvogel finden? Wir wollen ihn nämlich sehr gerne kennen lernen.“ „Aber natürlich“, erwiderten die Meisen gemächlich, „kommt morgen einfach mit, dann werdet ihr ihn schon sehen.“

Daraufhin tuschelten die Meisen noch ein wenig, kuschelten sich zusammen und schliefen ein. Den Spatzen blieb nichts weiter übrig, als auch zu schlafen. Am nächsten Morgen erwachten sie durch die fröhliche Balgerei der Meisen, die unter der aufgehenden Sonne spielten. „Sagt uns endlich“, riefen sie den Meisen zu, „wo wir den Paradiesvogel finden, damit wir losfliegen können.“ „Nur ruhig“, antworteten die Meisen. „Esst zuerst einmal etwas! Wir führen euch schon an die richtige Stelle.“

Die Spatzen aßen und tranken voll Ungeduld, und als sie damit fertig waren, folgten sie den Meisen, die alle auf einem großen Baum in der Nähe saßen. „Wir haben gegessen, getrunken und sind jetzt bereit. Wo also finden wir den Paradiesvogel?“ „Hier“, sagten die Meisen und kreisten kurz, bis sie vor dem großen Baum auf der lehmigen Erde saßen. Die Spatzen folgten ihnen. „Was soll das?“, ereiferten sie sich, „wo ist der Paradiesvogel?“ Die Meisen nickten nur kurz in Richtung der Spatzen: „Wartet ab. Habt ein wenig Geduld.“ Dann saßen die Meisen ganz still vor der kleinen schmutzigen Pfütze unter dem großen Baum. Endlich erhob sich die Sonne über den Gipfel des Baumes und strahlte direkt in die schlammige, kleine Pfütze, vor der Spatzen und Meisen saßen. In der Pfütze brachen sich die Strahlen der Sonne und zauberten tausend Farben in das braune, abgestandene Wasser. Auf der Oberfläche spiegelte sich ein kleiner Ast. Und plötzlich sahen die Spatzen darauf eine wunderschönen Vogel sitzen, der in den Farben der Sonne leuchtete.

„Das“, sagten die Meisen ruhig, „das ist der Paradiesvogel. Oder habt ihr jemals einen solch schönen Vogel gesehen?“ „Nein“, murmelten die Spatzen beeindruckt und glücklich, „so etwas sahen wir noch nie.“ Über so viel Schönheit vergaßen die Spatzen all die Fragen, die sie an den Paradiesvogel richten wollten. Still saßen sie da und schauten In die Pfütze, bis der leuchtend schöne Vogel davonflog. Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufging, saßen die Spatzen wieder an der kleinen Pfütze und warteten auf diesen wunderschönen Vogel. Die Meisen kamen später nach. Als die Sonne über dem großen Baum stand, strahlte wieder das Bild des Vogels aus der Pfütze. So ging es einige Tage. Die Spatzen waren glücklich, diesen schönen Vogel sehen zu dürfen. Das Fragen derentwegen sie sich auf die Suche gemacht hatten, waren nicht mehr wichtig. Es schien, als würde der farbenprächtige Vogel alle Fragen allein durch seine Anwesenheit lösen.

Eines Tages geschah es, dass einer der Spatzen verschlief. Seine Freunde waren alle schon davongeflogen, um den Paradiesvogel zu sehen. Auch die Meisen waren nicht mehr da. Eilig flatterte er davon, um möglichst schnell zu der kleinen Pfütze zu kommen. Als er ankam, saßen alle schon dort und starrten den Paradiesvogel an. Er entdeckte eine Meise, die auf einem kleinen Ast saß. Dieser hing genau über der Pfütze. Er flog näher an die Meise heran und plötzlich erkannte er, dass sie es war, die sich in der schlammigen Pfütze auf dem Boden spiegelte.

Wütend stürzte er nach unten zu seinen Freunden und piepste aufgeregt: „Seht nach oben“ Schaut, wie sie uns hereinlegen!“ Die Spatzen blickten empor und sahen gerade noch, wie die Meise davonflog. „So ist das also! Mit einem ganz gemeinen Trick habt ihr uns was vorgespielt!“ Die Spatzen waren völlig aus dem Häuschen. Doch die Meisen ließen sich nicht aus der Ruhe bringen: „Habt ihr nicht auch gesagt, dass ihr den Paradiesvogel gesehen habt?“ entgegneten sie den Spatzen. Hat denn dieser Vogel ausgesehen wie eine Meise?“

„Da wäre ja jeder ein Paradiesvogel. Er müsste sich nur auf einen Ast setzen und warten, bis ihn die Sonne in der Pfütze widerspiegelt.“ „Da könntet ihr durchaus recht haben“, zwitscherten die Meisen und warfen sich fröhlich in den Morgenwind.