Der Zauberspiegel
von Roland Kübler
Damals, als sich diese Geschichte zutrug, drehte sich die Erde viel langsamer als heute. Die Kontinente waren noch nicht auseinandergetrieben, und weder Tiere noch Menschen wurden von Grenzen in ihren Wanderungen behindert.
Das Mädchen Enea lebte in jener fast vergessenen Zeit allein in einer bescheidenen Hütte. Wie so oft, schlenderte Enea auch an diesem hellen Frühlingsmorgen hinaus in den noch stillen Wald. An einem kleinen See ließ sie sich nieder und schleuderte immer wieder rund gescheuerte Kiesel in das klare Wasser. Sie liebte es, mit den Blicken in den sich ausbreitenden Kreisen der kleinen Wellen zu versinken und zu träumen.
Plötzlich wurde sie durch einen schrillen Hilferuf aufgeschreckt, den verzweifelten Schrei einer Frau. Ohne zu zögern, rannte sie los. Hinter einigen Sträuchern fand sie ein hilfloses Bündel Mensch in einem Netz gefangen, das an einem kräftigen Ast baumelte. Immer wieder stieß die gefangene Frau Hilferufe aus, während sie sich wütend in den kräftigen Maschen hin und her warf.
„Sei doch still!“ rief Enea, als sie unter den Baum trat. „Sei doch still und bleib ruhig liegen. Sonst kann ich dir nicht helfen.“ Erleichtert wandte die Frau im Netz den Kopf und sah zu dem Mädchen hinunter. „Endlich hat mich jemand gehört“, rief sie atemlos. Schnell, hilf mir aus dieser Falle! Du kannst dir wünschen was immer du willst, aber rette mich, bevor die Gnome kommen.“
„Du brauchst mir nicht zu sagen, dass du mir Wünsche erfüllst“, erwiderte Enea, „daran glaube ich nicht, und außerdem hätte ich dich auch so losgeschnitten.“ Gewandt kletterte sie auf den Baum, und mit ihrem kleinen Messer, das sie sonst zum Pilze sammeln benutzte, säbelte sie so lange am starken Tau des Seiles, bis es schließlich aufdröselte und riss. Eilig befreite sich die Frau aus dem verworrenen Netz und hastete mit Enea zurück zum See. Mürrisch und wütend blickte sie immer wieder hinter sich, halblaut Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelnd. Am See angekommen setzten sich die beiden aufatmend in das dichte Gras. Enea blickte die Frau neugierig an. Es war schwierig, ihr Alter zu schätzen. Wenn sie lachte, wirkte sie recht jung, doch aus den Falten ihres Gesichts sprach auch die Weisheit vieler Generationen.
„Wie bist du denn in das Netz geraten?“ fragte Enea schließlich. Die Frau blickte sie lange prüfend an. „Ich bin eine Zauberin“, begann sie dann, „und die Gnome sind mir feindlich gesonnen. Sie haben diese Falle ausgelegt. Normalerweise können sie mich nicht festhalten, da mein Zauber mächtiger ist als ihrer. Deshalb haben sie auch Angst vor mir. Aber dieses verfluchte Netz wurde mit einem Bann belegt, den ich nicht brechen konnte. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein müssen.“ Enea runzelte die Stirn: „Es gibt keine Zauberinnen und schon gar keine Gnome. Das weiß doch jedes Kind.“ Wütend warf sie einen Kiesel in den See. „Warum erzählst du mir das?“ „Überall gibt es Gnome und Zauberinnen, aber auch Hexen und Magier. Man muss sie nur sehen wollen. Ich hab dir versprochen, alle deine Wünsche zu erfüllen. Was willst du denn jetzt am liebsten?“
Enea brauchte nicht lange zu überlegen. „Jetzt will ich gerade ein Erdbeereis und einen süßen Tee aus Hibiskus“, sagte sie sofort. Die Zauberin legte die Hände vor der Nasenspitze zusammen, auf ihrer Stirn zeigten sich drei Falten, und vielleicht wackelte sie auch ein wenig mit den Ohren. Auf jeden Fall standen plötzlich die gewünschten Dinge vor dem Mädchen. Das rot leuchtende Erdbeereis war sogar noch mit einem dicken Klecks schneeweißer Sahne verziert. Enea blieb der Mund offen stehen. Sie konnte nicht einmal „ooh“ oder „aah“ sagen. Auch der Kiesel, den sie gerade noch in den See schleudern wollte, lag vergessen in der Hand. „Das gibt es nicht“, stammelte sie fassungslos, „das gibt es einfach nicht! Wie hast du das gemacht?“
„Ich hab doch gesagt, dass ich eine Zauberin bin!“ Enea bekam große, kugelrunde Augen. „Du kannst mir wirklich alle meine Wünsche erfüllen?“ „Ich habe es versprochen“, sagte die Zauberin und lächelte ein klitzekleines Lächeln, in dem sich der frühlingsgrüne See spiegelte.
„Ich will ein Schloss. Ganz für mich. Weißt du, ich lebe in einer kleinen, schäbigen Hütte. Und dann will ich Diener, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und ein Pferd, einen Hund und viel Geld. Und einen jungen Prinzen, der nur mich liebt. Und jeden Abend Erdbeereis, und ein weiches Daunenbett, und dass jeden Tag die Sonne scheint, und, und, und …“ – Enea war so aufgeregt, dass sie sich verhaspelte und verschluckte.
Die Zauberin schaute das Mädchen ernst an: „Ich habe es versprochen. Dann soll es auch so sein. Alle deine Wünsche haben sich erfüllt. In jedem Jahr werde ich gerade an diesem Tag hier am See sein und auf dich warten.“ Daraufhin legte die Zauberin wieder ihre Hände vor die Nasenspitze, auf der Stirn erschienen die drei Falten, sie murmelte einige Worte in einer fremden Sprache und war plötzlich verschwunden.
Enea war allein und blickte sich um. Die Bäume rauschten leise im Spätnachmittagswind, der See kräuselte sich still und brummelte seine Weisheit an die Uferkiesel. Ihr wurde unheimlich. Schnell erhob sie sich und hastete zu ihrer Hütte zurück. Als sie unter den letzten Bäumen hervortrat, schloss sie vor Schreck die Augen und kniff sich kräftig in den Arm. Vorsichtig blinzelte sie nach kurzer Zeit wieder unter den Wimpern hervor. Was sie sah, verschlug ihr den Atem: Es gab keine Hütte mehr. Wo sie früher gewohnt hatte, erhob sich nun ein großes Schloss.
Zögernd ging sie weiter. Die Wachen präsentierten die Lanzen, dass der Steinboden dröhnte. Ehrfurchtsvoll und gleichzeitig gebieterisch riefen sie dann: „Die Königin kommt! Seid bereit!“
Sofort strömten auf geheimnisvolle Weise Diener und Lakaien herbei, verbeugten sich tief und lasen dem Mädchen jeden Wunsch von den Augen ab. Alles war wirklich so, wie es sich Enea gewünscht hatte. Das Erdbeereis am Abend war verlockend sahnig, das Daunenbett prall gefüllt und warm. Und der junge Prinz übertraf alle ihre Erwartungen. Kein Wunsch, den er ihr nicht schon erfüllt hätte, noch bevor sie ihn aussprach, kein Tag, an dem er ihr nicht beteuerte, dass er sie und nur sie liebe, keine Stunde, in der er ihr widersprach oder zürnte.
Eigentlich könnte die Geschichte hier enden, und vielleicht wäre es ein schönes Märchen für Enea geworden, aber – es kam alles ganz anders.
Nein, nicht dass jemand denkt, die Zauberin hätte nicht Wort gehalten. Es war und blieb alles genauso, wie Enea es sich gewünscht hatte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – nach einiger Zeit wurde Enea unzufrieden und böse. Sie brüllte Diener, Lakaien und Wachen an. Den Prinzen, von dem sie noch vor kurzem hingerissen war, demütigte sie und wollte ihn nicht mehr sehen – und sogar jetzt beteuerte er ihr immer noch, wie sehr er sie und nur sie liebe. Das Erdbeereis warf sie jeden Abend aus dem Fenster, und eines Nachts schlitzte sie sogar ihre Daunendecke auf. Schließlich erinnerte sich Enea an die Zauberin.
Als ein Jahr vergangen war, machte sie sich früh am Morgen auf zu jenem See im Wald. Am Ufer saß schon die Zauberin auf einem großen Stein und blickte ihr entgegen. „Du siehst nicht sehr zufrieden aus“, begrüßte sie das Mädchen und nahm deren Hand. „Ich bin auch nicht zufrieden“, murmelte Enea. „Fehlt irgend etwas in deinem Schloss? Habe ich etwas vergessen?“ Die Zauberin musterte sie aufmerksam. „Nein, nein“, sagte Enea, „es ist alles, wie ich es mir gewünscht habe, nichts fehlt. Nur, ich bin wütend, ärgerlich und missmutig und weiß nicht, warum! Kannst du mir helfen?“
Die Zauberin überlegte lange. Dann zog sie das Mädchen neben sich auf den Stein: „Es gibt vieles, was ich dir erfüllen kann. Aber es gibt auch einiges, das du dir selbst erfüllen musst. Es gibt keinen Zauber, der die Unzufriedenheit aus deinem Herzen vertreibt und keinen geheimen Spruch, der Missmut in Fröhlichkeit verwandeln könnte.“ „Dann ist mir also nicht zu helfen?“ flüsterte Enea traurig.
„Meine Hilfe kann ich dir schon anbieten“, erwiderte die Zauberin ernst, „aber ich kann dich nicht mit meinem Zauber zufrieden und fröhlich machen.“ „Wie willst du mir dann helfen?“ klagte Enea und sprang verzweifelt auf. „Ich werde dir meinen Spiegel geben“, sagte die Zauberin und griff unter ihren weiten Umhang. „Ist es ein Zauberspiegel?“ Hoffnungsvoll strahlte Enea die Zauberin an. „So könnte man ihn vielleicht nennen.“ Jetzt lächelte die Zauberin wieder ein wenig. „Was kann man darin sehen?“ Aufgeregt hüpfte Enea von einem Bein auf das andere. „Du kannst dich darin sehen“, sagte die Zauberin.
„Ooch.“ Enea war sehr enttäuscht. „In meinem Schloss gibt es in jedem Zimmer goldene und silberne Spiegel. Jeden Tag kann ich mich darin sehen. Was soll an deinem Spiegel so besonders sein?“
„Sieh doch mal hinein“, lächelte die Zauberin und hielt ihr den Spiegel vors Gesicht. Enea erblickte darin das Gesicht eines kleinen Kindes. Die Augen waren trotzig zusammengekniffen, die Mundwinkel hingen missmutig nach unten, und auf der Stirn zeigten sich böse, steile Falten. „Wer ist dieses Kind?“ Sie trat näher an den Spiegel, um genauer sehen zu können. „Warum schaut es so böse, trotzig und missmutig?“
„Kennst du das Kind wirklich nicht?“ fragte die Zauberin verwundert. „Sieh es dir genau an!“ Lange schaute Enea. Dann zuckte sie plötzlich zurück. Sah wieder hin. Wandte sich ab und vergewisserte sich nochmals. Nachdem sie einen dicken Kloß hinuntergeschluckt hatte, flüsterte Enea: „Das bin ja ich. Dieses Kind bin ich! Aber so habe ich nie ausgesehen, als ich klein war – und trotzdem, das Kind im Spiegel bin ich.“
Die Zauberin nickte: „Ja, das bist du. Nicht, wie du als Kind warst. Nein, der Spiegel zeigt dir, wie du jetzt bist. Du stehst zwar hier als junge Frau in den Kleidern einer Königin. Der Spiegel lässt sich jedoch nicht betrügen. Er zeigt, wer du in Wirklichkeit bist. Ich schenke ihn dir. Auf das Schloss und all die anderen Sachen musst du dann aber verzichten.“
Weil Enea sehr verzweifelt war, willigte sie ein. Und kaum hatte sie genickt, stand sie wieder in den alten, oftmals ausgebesserten Kleidern am See. Die Zauberin war verschwunden, und der Spiegel lag auf dem großen Stein. Nochmals nahm ihn Enea in die Hand. Auch jetzt sah sie darin wieder jenes kleine Kind, das sie war. Aber es schaute nicht mehr ganz so trotzig und missmutig – und fast schien es Enea, als sei das Kind ein wenig gewachsen.
Einige Zeit lebte sie wieder in der alten Hütte. Dann fühlte sie sich dort jedoch sehr allein. Sie packte die wenigen Habseligkeiten zusammen, vergaß auch den Spiegel nicht und machte sich auf eine lange Reise. Enea erlebte viel, erfuhr Gutes und Schlechtes, fand Freunde, aber schaffte sich auch einige Feinde. Inzwischen wusste sie selbst am besten, was für sie gut und richtig war. Immer wieder schaute Enea in den Spiegel und freute sich daran, wie das kleine Kind darin wuchs, älter und reifer wurde.
Nach langen Jahren kam sie wieder einmal in die Nähe ihrer alten Hütte. Sie suchte den kleinen See im Wald auf. Dort hatte sich kaum etwas verändert. Die Büsche standen ein wenig dichter, und die Bäume streckten ihre Kronen noch höher in den Himmel. Die Zauberin saß auf dem großen Stein und winkte ihr freudig zu. „Du bist älter geworden. Trotzdem leuchtet in deinen Augen noch der Blick des Mädchens, das mich aus dem Netz befreit hat“, begrüßte sie Enea. Liebevoll umarmten sie sich.
„Ich bin froh, dich hier zu treffen. Ich will dir danken und dir deinen Spiegel wiedergeben. Er hat mir sehr geholfen.“ „Nicht der Spiegel hat dir geholfen! Er hat dir nur gezeigt, was du sowieso gewusst hast. Du wolltest es nur allzu oft nicht wahrhaben“, sagte die Zauberin. „Komm, schau noch ein letztes Mal hinein.“
Die Zauberin nahm den Spiegel und hielt ihn Enea hin. Ein Gesicht blickte Enea ernst und offen an: das Gesicht eines kleinen Kindes, das eines Mädchens, einer Frau, einer Königin in abgetragenen Kleidern. Und ein wenig meinte sie auch die weisen Züge der Zauberin zu erkennen. Und doch war es nur ein Gesicht – ihr eigenes.