Die Geschichte von den beiden Apfelbäumen

von Heiko Bierhoff

In einem verwilderten alten Garten standen nahe einer bereits verfallenen Steinmauer zwei alte Apfelbäume. Sie waren vor langer Zeit aus dem gleichen Kerngehäuse gewachsen und von einem alten Mann mühsam gehegt und gepflegt worden. Seitdem standen sie nebeneinander und streckten ihre mittlerweile krummen Äste sehnsüchtig nach der Ferne aus, die sich hinter der verwitterten Mauer erstreckte.

Sie hatten schon unzählige Male im Frühling Blüten getrieben, sich von dem Umschwärmen der Bienen berauschen lassen, ihre Blätter den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegengereckt und im Sommer Früchte getragen. Im Laufe vieler Jahre waren ihre großen Äste aufeinander zu gewachsen, so dass sie nun zusammen ein geschlossenes Blätterdach bildeten, in dessen Schatten der alte Mann oft seinen Mittagsschlaf gehalten hatte.

Viele Generationen von Vögeln waren in ihren von den Apfelbäumen wohlbehüteten Nestern flügge geworden und jedes Jahr wieder zurückgekehrt, um dann selbst im Schutz der starken Äste zu brüten. Im Herbst endlich, wenn hinter der Mauer die Stoppelfelder leuchteten, waren auf den beiden Bäumen stets die schönsten Äpfel weit und breit gereift.

Doch inzwischen waren die beiden Apfelbäume alt geworden, und auch der alte Mann war schon seit langem nicht mehr da. Sie trugen von Jahr zu Jahr weniger Früchte, und der Garten verwilderte mehr und mehr. In diesem Frühling sollte es das letzte Mal sein, dass sie Blüten trieben. Ihre Äste waren schwach geworden und seufzten manchmal wehmütig im Wind.

Nur eine alte Dohle hatte noch ihr Nest dort oben, wo das Geäst der beiden Bäume ineinander griff und noch ein wenig Halt bot. Im Sommer waren die jungen Dohlen flügge geworden. Nachdem sie die stolzen Lieder der Jugend geschmettert hatten, verließen sie ihre Mutter, die bereits zu schwach war, um ihnen zu folgen. Die Dohle suchte in den Ritzen der Steinmauer nach Insekten und Würmern. Abends sang sie voller Erinnerung an vergangene Frühlingstage ihr trauriges Gutenachtlied, wenn die rote Sonne hinter den Feldern versank.

Die beiden Apfelbäume hatten die meisten ihrer Blüten verloren. Jedem waren lediglich drei Fruchtstände geblieben, die sie sorgsam hüteten. Die alte Dohle beschützte ihnen diesen Schatz, indem sie Raupen, Mücken und andere Insekten von den Blättern pickte, wusste sie doch, wie kostbar einem die letzte Brut ist.

So wurden die jungen Äpfel voller und schwerer, und als die Felder abgeerntet waren, trug jeder Baum drei prächtige Äpfel, deren rote Backen frech aus dem grünen Blätterdach hervorlugten.

Doch mit ihrem Stolz auf diese herrlichen Früchte wuchs auch die Angst davor, diesen besonderen Schatz verlieren zu können. Den auf ihrem Weg nach Süden vorbeiziehenden Vögeln, denen sie sonst ihre Gastfreundschaft gewährt hatten, verweigerten sie in diesem Herbst den Aufenthalt in der Furcht, die hungrigen Gesellen könnten sich über ihre wohlgehüteten Früchte hermachen.

Dann wurde es langsam kälter, die vom Herbst buntgefärbten Blätter lösten sich von den Ästen und schwebten sacht zu Boden. Morgens waren die Felder mit Raureif überzogen, und der Winter webte an dem großen weißen Tuch, mit welchem er das vergehende Jahr zudeckte.

Für die alte Dohle wurde es immer schwerer, noch Nahrung zu finden. Eines Morgens wachte sie dick aufgeplustert in ihrem fast auseinandergefallenen Nest auf und weinte bitterlich vor Hunger und Kälte.

Den beiden Apfelbäumen tat der Vogel leid, denn sie hatten ihn sehr liebgewonnen. Sie streichelten ihn behutsam mit ihren feinen Ästchen. „Komm, sing uns ein Lied!“ forderte ihn einer der beiden Bäume freundschaftlich auf. „Wir wiegen dich sanft dazu, und dann vergisst du deinen Schmerz.“

„Ich kann nicht mehr singen“, krächzte die alte Dohle, „dazu bin ich zu schwach.“ Und nach einem Seufzen setzte sie kraftlos hinzu: „Ach, könnte ich doch nur einen von euren süß duftenden Äpfeln essen, dann würde ich für euch die schönsten Lieder singen.“ Kaum hatte sie den Satz beendet, da schämt sich die alte Dohle, denn sie wusste, was sie von ihren Freunden forderte.

Vor Schreck erbebte der eine Baum und schloss sofort seine kahl gewordenen Äste um seine drei Äpfel. „Nein, das kann ich nicht! Es sind schließlich die letzten Früchte, die ich tragen werde. So gerne ich auch deine Lieder höre – meine Äpfel werde ich nicht hergeben!“

Große Tränen rollten der alten Dohle über ihr Gefieder, das jeden Glanz verloren hatte. Da nahm der andere Baum sie behutsam mit seinen Zweigen aus dem Nest und hob sie zu den Ästen, an denen seine drei Äpfel verlockend leuchteten. „Iß nur einen von ihnen! Ich habe dann ja noch immer zwei, an denen ich mich erfreuen kann.“

Beinahe hätte die Dohle dieses Angebot ausgeschlagen, so sehr beschämte es sie, dieses Opfer annehmen zu müssen, um nicht zu verhungern. Doch dann schnappte sie zu und fraß den kleinsten Apfel bis auf die Kerne auf. Diese nahm sie vorsichtig in ihren Schnabel, kehrte frisch gestärkt in ihr Nest zurück und sang eines ihrer schönsten Lieder. Der Baum, der jetzt nur noch zwei Äpfel trug, erzitterte tief in seinem Holz und vergoss traurig einige Tropfen Harz.

Am nächsten Morgen wurde es noch kälter. Die Apfelbäume fühlten, dass es bald an der Zeit war, sich in ihre Stämme zurückzuziehen und tief im Wurzelwerk den Winter über zu schlafen. Die Dohle wachte wieder vor Hunger auf, und nachdem sie den ganzen Tag vergeblich nach etwas Essbarem gesucht hatte, flog sie wieder hinauf zu ihrem Nest und weinte bitterlich.

Der eigensüchtige Baum mit den drei Äpfeln löste seine Zweige vom Nest der Dohle, so dass es nur noch von den Ästen des anderen gestützt wurde. Er hatte nämlich Angst davor, schon wieder um einen seiner Äpfel gebeten zu werden. Dann tat er so, als sei er bereits im Winterschlaf.

Dem anderen Baum tat der Vogel Leid. Er gab dem Nest noch mehr Halt, damit es nicht herunterfallen konnte, und bot der Dohle einen seiner zwei verbliebenen Äpfel an. Tränenblind sah sie das Geschenk und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie fühlte, dass es dem alten Baum fast das Herzholz brach, als er ihr auch den zweiten Apfel überließ. Still fraß sie ihn auf und verwahrte die Kerne wieder in ihrem Nest. Dann kletterte sie ganz dicht an den Stamm des guten Freundes und sang dankbar ein wunderschönes Sommerlied.

Sternenklar brach die Nacht herein, und mit dem kalten Mondlicht schlich sich der Frost in den Garten.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufstieg, konnten ihre Strahlen die alte Dohle nicht mehr wärmen. So schwach waren sie geworden, dass selbst am Mittag ihr beinahe noch der Atem gefror. Sie war zu erschöpft, um noch auf Nahrungssuche gehen zu können. Den ganzen Tag blieb sie im Nest und spürte, dass sie wohl bald ihr letztes Lied singen würde, sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu weinen.

Der Baum mit den drei Äpfeln tastete vorsichtig nach seinen so sorgsam gehüteten prallen Früchten, die jetzt schon gefroren waren, so dass sie wohl immer so schön bleiben würden. Froh darüber sank er in den tiefen Schlaf des Winters.

Der andere Apfelbaum aber war sehr besorgt um die Dohle und versuchte, sie mit seinem Ästen vor dem schneidend kalten Wind zu schützen. Am Abend fürchtete er schon, sie sei gestorben. Aber da bewegte sich der Vogel doch noch und erwachte für einen kurzen Augenblick aus seiner Starre.

Lange zögerte der Baum, bis er schließlich doch den Zweig mit seinem letzten Apfel genau vor den Schnabel des Vogels hielt. Mühsam pickte die Dohle in das gefrorene Fruchtfleisch. Noch bevor sie den ersten Bissen schlucken konnte, hatte sich der Apfelbaum tief in seine Wurzeln zurückgezogen, damit er nicht miterleben musste, wie auch seine allerletzte Frucht aufgefressen wurde. Mit leeren Ästen fiel er in den langen Schlaf, den alle Bäume im Winter halten, um im Frühjahr mit neuer Kraft erwachen zu können.

Als die Dohle auch diesen Apfel verspeist hatte, flatterte sie mit allen Kernen der drei Äpfel im Schnabel zu Boden. Mühsam scharrte sie ein paar Löcher in das harte Erdreich unter dem guten Apfelbaum und vergrub so die Kerne der Äpfel, mit denen er sie gespeist hatte. Dann suchte sie sich zwischen den Wurzeln einen Unterschlupf, weil sie nicht mehr kräftig genug war, um noch einmal zu ihrem Nest hinauffliegen zu können. Dort sang sie ihr letztes Lied, aber niemand hörte es mehr, da der ganze Garten bereits unter der weißen und weichen Decke des Winters lag und alles um sie herum schlief.

So blieb es, bis im Frühling sich die ersten Knospen zeigten und die Farbe des noch mit Schnee bedeckten Gartens annahmen. Nach den Schneeglöckchen wuchsen auch die Tulpen und die Narzissen den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegen. Und als der letzte Schnee geschmolzen war und von fern das Läuten der Osterglocken über die verfallene Mauer herüberwehte, da erwachten auch die beiden alten Apfelbäume aus ihrem langen Schlaf. Vorsichtig spross ihr erstes Grün, aber niemals mehr würden sie die Maisonne mit strahlenden weißen Blüten erfreuen können.

Verwundert entdeckte der Apfelbaum, der seine letzten Früchte der alten Dohle geschenkt hatte, dass rund um seinen Stamm drei junge Triebe wuchsen! Behutsam berührte er mit seinen feinen Wurzeln die der jungen Bäume und fühlte voller Stolz, dass sie aus den Kernen seiner eigenen Äpfel gewachsen waren. Vor Freude schüttelte er sein frisches Laub so stark, dass einige auf seinen Ästen ruhende Tauben schimpfend davonflogen.

Ganz neidisch sah der andere Baum zu ihm herüber und besann sich dann seiner eigenen wunderschönen Äpfel, die er den Winter über in seinen Zweigen festgehalten hatte. Doch als er sein junges Laub öffnete, waren ihm nur noch drei schimmlige und verfaulte Reste geblieben. Der selbstsüchtige Baum war darüber so entsetzt, dass er alle Blätter fallen ließ und sich für immer in seine Wurzeln zurückzog.

Der von seinen Sprösslingen umringte Baum aber bewunderte das ganze Jahr hindurch die kleinen Pflänzchen, freute sich an deren Wachstum und erlebte ein paar Jahre später, wie die jungen Bäumchen selbst zum ersten Mal mit zarten weißen Blüten um die Wette prangten. Jahr für Jahr gewährte er in seinem knorrigen Geäst den Nachkommen der alten Dohle Unterschlupf und erzählte ihnen von den schönsten Gesängen ihrer Mutter. Als die jungen Bäume die ersten Früchte trugen, lehrte er sie, den Vögeln im Herbst stets Nahrung zu geben, damit sie stark genug sind für den weiten Flug nach Süden.

An den selbstsüchtigen Apfelbaum erinnert heute nur noch ein verdorrter Stumpf mit verwitterter Borke, wo seltsamerweise noch niemals ein Vogel sein Nest gebaut hat.