Die kleine goldene Blume
Es war einmal eine kleine goldene Blume, die lebte in einem Meer von wilden silbernen Sträuchern. Sie kam sich einsam und verlassen vor, denn die Sträucher mieden sie und sprachen nicht mit ihr. Die kleine goldene Blume blieb alleine. Ihre zarten Blätter klirrten im Winde, und wenn die Sonne schien, blendete sie ihre Umgebung. Die silbernen Sträucher hielten sie für verwunschen und fürchteten sie.
Die goldene Blume war sehr, sehr traurig über diesen Zustand, und nur manchmal, wenn der Mond in klaren, hellen Nächten auf sie herunterschaute, sagte sie sich: „Ja, vielleicht bin ich ja ein kleines Stückchen vom großen goldenen Mond, bin heruntergefallen, um hier zu leben… doch – warum nur?!“ So zagte und zauderte sie an sich und ihrem Schicksal, als eines Tages blaue Schmetterlinge herbeiflogen.
„Sag, kleine goldene Blume“, sprach einer von ihnen, „kannst du uns sagen, was Freude ist? Wir zogen aus, um sie zu suchen, zogen aus, um herauszufinden, was das wohl ist.“ Die kleine goldene Blume überlegte lange. Je länger sie nachdachte, umso trauriger schien sie zu werden; ihr Köpfchen senkte sich hinab zu ihren güldenen Blättern, und mit feiner, zerbrechlicher Stimme antwortete sie leise: „Freude? Nein, was Freude ist, weiß ich nicht. Doch solltet ihr sie finden, so müsst ihr zu mir zurückkommen, um mir davon zu berichten.“ Die blauen Schmetterlinge versprachen dies und machten sich wieder auf den Weg.
Sie flogen Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und die kleine, goldene Blume wartete sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Doch so lange sie auch wartete, die Schmetterlinge schienen nicht mehr zu ihr zurückkommen zu wollen, und die kleine Blume wurde immer älter und immer trauriger. Mit jedem Jahr verlor sie mehr und mehr die Hoffnung, die Schmetterlinge wiederzusehen und zu erfahren, was Freude sei, und eines Tages hatte sie gar keine Hoffnung mehr. Nachdem noch einmal viele einsame Jahre vergangen waren, erlebte die kleine Blume einen seltsamen Sommertag.
Sie hatte mit einem Mal den Eindruck, als ob die Sonne wärmer und heller als je zuvor in ihrem Leben auf sie herabschien. Verwundert hob sie ihr Köpfchen und blinzelte ins Sonnenlicht. Sie hatte sich an diesem Morgen besonders alt und müde gefühlt, doch diese Sonnenstrahlen schienen sie zärtlich trösten und streicheln zu wollen. Da hörte sie, wie die Sonne zu ihr sprach: „Kleine, goldene Blume, du brauchst nicht länger traurig zu sein! Bald darfst du nach Hause kommen, und du wirst nie mehr allein und unglücklich sein. Dann kannst du mit deinen Brüdern und Schwestern spielen und musst dir keine Sorgen mehr machen.“
Die erstaunte kleine Blume versuchte noch mehrmals, der Sonne Fragen zu stellen, aber sie erhielt keine Antwort. Dennoch spürte sie tief in ihrem Innern, dass sie keiner Täuschung erlegen war. Sie glaubte den Worten der Sonne, und wie in ihrer Kindheit spielte sie übermütig und ausgelassen mit den Sonnenstrahlen, bis ihre ganze Umgebung um sie herum golden leuchtete. Die silbernen Sträucher waren sehr verwundert, denn die kleine Blume hatte in den letzten Jahren nur noch ein mattes Glänzen hervorgebracht, und sie tuschelten empört miteinander über den Fremdling in ihrer Mitte. Sie hatten die verzweifelten Fragen der Blume an einen nicht existierenden Dritten mithören können, nicht jedoch die Worte der Sonne, und waren der Meinung, die goldene Blume müsse jetzt endgültig übergeschnappt sein.
Die kleine goldene Blume störte das missbilligende Gemurmel der Sträucher jedoch überhaupt nicht, sie spürte, wie sie noch einmal für einen Tag aufblühen konnte, und genoss eine längst vergessene Lebenskraft. Als schließlich die Sonne untergegangen war, fühlte sie sich so müde wie nie zuvor, doch schien dies eine angenehme Erschöpfung zu sein, wie wenn man am Abend Ruhe finden darf, nachdem man am Tag die Aufgabe und Arbeit, für die man bestimmt ist, mit ganzer Anstrengung aber auch mit ganzer Freude erledigt hat.
Während es nun dunkler und kühler wurde, erschien ein voller goldener Mond am sternenbedeckten Himmel. Die kleine Blume lächelte den Mond an und sprach: „Vater, ich weiß, dass nun der Moment gekommen ist, dass du mich zu dir zurückholst. Heute war der schönste Tag in meinem Leben, und es tut mir so Leid, dass ich diese Erfüllung erst so spät finden konnte. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr enttäuscht.“ Der Mond lachte: „Meine kleine goldene Blume, meine kleine Tochter, ich liebe dich, und ich liebe dich umso mehr für dein Leben, in dem du kein Glück und keine Freude zu finden glaubtest. Ich sehe, dass du schließlich doch noch zur Zufriedenheit und zur Liebe zu dir selbst gefunden hast, und ich freue mich, dich jetzt wieder in meine Arme nehmen zu dürfen.“
Die kleine Blume war voller Glück und Freude, sie fühlte sich erleichtert und immer leichter werden. Sie spürte die Liebe des Mondes, sie spürte sie immer größer werden, und schließlich war um sie nur noch Liebe. Der Mond schien größer zu werden, zu wachsen, anzuschwellen, er füllte bald den ganzen Himmel aus, überall war nur noch Mond, das Gold der Blume verschmolz mit dem Gold des Mondes, die Blume war Mond, der Mond war Blume.
Am nächsten Morgen kurz vor Sonnenaufgang näherte sich ein blauer Schmetterling der kleinen goldenen Blume. Er war der letzte der Schmetterlinge, die damals ausgezogen waren, die Freude zu suchen, und obwohl auch er mittlerweile sehr alt geworden war, hatte er die kleine Blume doch nicht vergessen. Als er sich auf eines ihrer goldenen Blätter setzte, bemerkte er verwundert, wie sonderbar welk sich das Blatt anfühlte. Mit einem Blick in das ungewöhnlich zufrieden lächelnde Gesicht der kleinen Blume wusste er, dass sie nicht schlief. Sie musste in der Nacht gestorben sein.
Der Schmetterling konnte im Gesicht der Blume auch ihre Freude ablesen, er konnte sogar noch etwas davon fühlen. Die Sonne kam hinter dem Horizont hervor, und ihr junges Licht spiegelte sich glänzend auf den Blättern der goldenen Blume und auf den Tränen des blauen Schmetterlings.